„Keine Frage, er ist mein Bruder!“ – Kriegskinder-Konferenz mit Francis Boulouart
Bikulturalität ist heute selbstverständlich. Gerade am Deutsch-Französischen Gymnasium wird die deutsch-französische Freundschaft gelebt. Dass Deutsche und Franzosen miteinander leben, dass sie sogar Liebesbeziehungen eingehen, ist nicht mehr außergewöhnlich. Doch das war nicht immer so: Früher war es eine Schande, ein Kind eines Deutschen, ein Kind des Feinds, zu sein.
Auf der Konferenz „Mein Vater war ein deutscher Soldat“ erzählt Francis seine Geschichte. Die Veranstaltung mit anschließender Podiumsdiskussion wurde von der Union des Français de Sarre in Kooperation mit „ZDF goes Schule“ und Phoenix organisiert.
Auch Schüler*innen des DFG konnten daran teilnehmen. Die Geschichte von Francis Boulouart zeigt, wie sich die deutsch-französischen Beziehungen entwickelt haben.

Francis Boulouart ist ein Kriegskind. Er ist der Sohn einer Französin und eines deutschen Soldaten. Geboren wurde er mitten im 2. Weltkrieg, in Calais.
Nachdem Nazideutschland am 10. Mai 1940 Frankreich überfallen hatte, wurde eineinhalb Monate später der Waffenstillstand deklariert. Die Region Nord-Pas-de-Calais wurde von 120.000 deutschen Soldaten besetzt. Französische Soldaten waren zu dem Zeitpunkt in Kriegsgefangenschaft. „Es gab also zwangsläufig Kontakt zwischen deutschen Männern und französischen Frauen“, berichtet Francis.
Wehrmachtssoldaten besetzten das Nachbarhaus von Georgette, seiner Mutter. Deutsche Soldaten und Französinnen kamen zwangsläufig im alltäglichen Leben in Kontakt. Georgette kümmerte sich um die Wäsche der Soldaten und lernte so Willi Knöri kennen. Sie verliebten sich. Am 23. Januar 1943 kam dann Francis zur Welt. Seine Mutter versicherte Francis später, er sei ein „enfant d’amour“, also ein Kind, das aus einer echten und nicht erzwungenen Beziehung hervorging – im Gegensatz zu anderen Fällen. Vergewaltigungen waren keine Seltenheit. Die deutschen Besatzer richteten viel Leid an. Georgette und Willi jedoch waren ein Paar aus Liebe, das lassen zumindest die Erzählungen von Francis‘ Mutter vermuten.
„Ich hatte unfassbares Glück, dass meine Mutter mich sehr geliebt hat“, stellt Francis rückblickend fest.
Willi erlebte nur fünf Monate der Kindheit seines Sohnes Francis. Danach musste er Frankreich verlassen. Er kehrte nie zurück. Francis wuchs bei seiner Mutter auf. Sie setzte sich für ihren Sohn ein – auch, als man sie dazu drängen wollte, ihn abzugeben. Sie hielt dagegen: „Ich hatte unfassbares Glück, dass meine Mutter mich sehr geliebt hat“, stellt Francis rückblickend fest. Er ist seiner Mutter dafür bis heute dankbar, dass sie ihn gegen alle Widerstände großgezogen hat.
Das war keinesfalls die Regel. Oftmals wurden Frauen, die sich mit Deutschen eingelassen hatten, öffentlich gedemütigt; ihnen wurden die Haare geschoren. Georgette blieben solche körperlichen Erniedrigungen erspart. Dennoch: Der gesellschaftliche Druck war enorm. Diesen bekam sowohl Georgette als auch Francis zu spüren. Kinder deutscher Soldaten wurden als „enfants de boche“, als Kinder der Schande, verunglimpft. Die Kinder, die keinerlei Verantwortung für die Grausamkeit des Krieges und der deutschen Besatzung trugen, erfuhren Diskriminierung.

Als Francis 1949 in die Grundschule, in die sogenannte „école communale“ kam, habe er gespürt, dass er anders als die anderen Kinder sei. Er war mit dieser Geschichte aber keineswegs allein: 20-30% der Grundschüler*innen seiner Klasse seien Kinder deutscher Besatzer gewesen, so Francis. Die Hoffnung, seinen Vater eines Tages wiederzusehen, hatte er nicht aufgegeben.
Im Alter von sieben Jahren überreichte seine Mutter ihm einen Zettel mit dem Namen und der Adresse seines Vaters. Das war der einzige Gegenstand, den er von seinem Vater hatte. Er behielt ihn sein Leben lang. Obwohl er sich nicht auf die Suche nach seinem Vater machen konnte, spürte er eine gewisse Verbundenheit gegenüber Deutschland: „Ich hatte immer den Eindruck, dass ich innerlich etwas von Deutschland hatte“. Seine Herkunft versuchte er in manchen Situationen zu verstecken: „Manchmal wünschte ich mir, so wie jeder andere zu sein“. Er hatte Angst, verurteilt und abgewiesen zu werden. Gleichzeitig befürchtete er, damit seine Wurzeln zu „verraten“.
„Manchmal wünschte ich mir, so wie jeder andere zu sein“. – Francis Boulouart
Francis Boulouart beschreibt seine Kindheit – trotz seiner Identitätssuche und der damit verbundenen Diskriminierung – als behütet. Vor allem dank seiner Mutter. Im Jahr 1957 gebar sie eine Tochter namens Yvette, die aus einer Beziehung mit einem Kellner hervorging. Sie heiratete allerdings nicht. Georgette starb 1964 bei einem Autounfall.
45 Jahre nachdem seine Mutter ihr den Zettel mit den Daten seines Vater anvertraut hatte, machte sich Francis erstmals auf die Suche nach ihm. Diese gestaltete sich als schwierig. Als er sich an das französische Konsulat in Stuttgart wandte, hatte er keinen Erfolg. Im Jahr 2004 rückte das Schicksal der Kriegskinder durch die Veröffentlichung des Buches „Enfants maudits“ in den medialen Fokus. Francis wagte einen neuen Anlauf: „Als ich in Rente ging, sagte ich mir: Es ist soweit. Zeit, meinen Vater zu suchen“. Er kontaktierte die WASt, die deutsche Wehrmachtsauskunftsstelle, in der sich 18 Millionen individuelle Zettel über die Identität deutscher Wehrmachtssoldaten befinden. Francis hatte Glück: Die WASt konnte seine deutsche Familie ausfindig machen.

Endlich erfuhr er mehr über seine deutschen Wurzeln. Unmittelbar nachdem sein Vater aus Frankreich nach Deutschland zurückkehrte, am 2. Juli 1943, hatte er geheiratet. Aus dieser Ehe gingen eine Tochter und ein Sohn hervor. Willi Knöri starb im Jahr 1988.
„Man hat sofort gemerkt, dass eine Verbindung da ist“. – Rudi Knöri
Als Rudolf, genannt Rudi, Knöri erfuhr, dass er einen Halbbruder in Frankreich hatte, war er zunächst schockiert. Sein Vater hatte Georgette und Francis nie erwähnt. Am 26. Mai 2006 trifft schließlich Rudis Familie in Frankreich ein. Rudi erinnert sich im Interview mit Camäléon an die emotionale Situation: „Wenn die Chemie nicht gestimmt hätte, hätten wir abreisen können. Aber die Chemie war sofort da. Man hat sofort gemerkt, dass eine Verbindung da ist“. Bei der Umarmung zur Begrüßung haben beide Tränen in den Augen. Trotz der Sprachbarriere, Rudi kann kein Französisch und Francis kein Deutsch, verstehen sich die beiden Brüder ganz selbstverständlich. „Wir haben sogar eigene Codes, um miteinander zu kommunizieren“, scherzt Rudi.
Die beiden Brüder sind seither in Kontakt geblieben. Beim nächsten Treffen, diesmal in Deutschland, trifft Francis auf die Ehefrau seines Vaters. „Sie hat mich als ihren Sohn anerkannt“, berichtet Francis sichtlich gerührt. Sie zeigte ihm das Fotoalbum, das vom Leben seines Vaters in Deutschland zeugt, und erzählte ihm davon, wie sein Vater gewesen war.
„Hat er sich wenigstens einmal vorgestellt, dass sich die Familie eines Tages wiederfinden würde?“, fragt sich Francis am Grab seines Vaters. Einige Fragen werden wohl für immer unbeantwortet bleiben.
Damit auch andere Familien mit einer ähnlichen Geschichte vereint werden können, gründete Francis zusammen mit 43 Kriegskindern die Organisation „Amicale Nationale des Enfants de la Guerre“ (ANEG). Francis Boulouart hält außerdem Vorträge in Frankreich und Deutschland über seine Geschichte. So hält er die Erinnerung an das Schicksal der Kriegskinder wach. Gerade für jüngere Generationen.

„Was mich am meisten beeindruckt, ist, dass sich Deutsche und Franzosen sogar in Zeiten des Krieges und der Feindschaft lieben können“. – Maxime Dupré, 2ndES
Nach der Konferenz hatte Camäléon die Möglichkeit, Schüler*innen, die die Veranstaltung besucht hatten, zu befragen. „Was mich am meisten beeindruckt, ist, dass sich Deutsche und Franzosen sogar in Zeiten des Krieges und der Feindschaft lieben können“, sagt Maxime Dupré aus der 2ndES. Valentin Förster, ebenfalls aus der 2ndES, stellt fest: „In der aktuellen politischen Situation finde ich es sehr wichtig, dass man für solche Themen nochmal sensibilisiert. Ich finde, das kann man sehr gut durch solche Geschichten tun (…)“.
„In der aktuellen politischen Situation finde ich es sehr wichtig, dass man für solche Themen nochmal sensibilisiert. Ich finde, das kann man sehr gut durch solche Geschichten tun (…)“. – Valentin Förster, 2ndES
Francis muss seine deutschen Wurzeln nicht mehr verstecken. Deutschland bezeichnet er als zweite Heimat. Von dieser zweiten Heimat hat er sogar einen Pass: „Deutschland hat mir die Hand entgegengestreckt“, sagt Francis zufrieden. Auch dank seines Engagements erkennt die Bundesrepublik Deutschland die Kinder deutscher Soldaten an. Francis lacht: Als er an der marokkanischen Grenze kontrolliert wurde und seinen deutschen Pass vorzeigte, wurde er für seine guten Französisch-Kenntnisse gelobt. Als Deutscher.

Auf die Frage von camäléon.org, ob er Francis‘ und seine Geschichte als Symbol der deutsch-französischen Freundschaft lese, antwortet Rudi: „Als Francis geboren wurde, waren Deutschland und Frankreich Feinde (…). Heutzutage sind wir Europäer“. Er fordert, die deutsch-französischen Beziehungen weiter voranzutreiben. Es dürfe nie wieder zu einem Krieg in Europa kommen.
Francis ist derselben Meinung. Er betont die Wichtigkeit, an die Vergangenheit zu erinnern: „Ohne die Erinnerung an die Geschichte kann man die Zukunft für die Jugend nicht aufbauen“. Francis Boulouart leistet einen wichtigen Beitrag dazu.
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